Gilberto Botti
Parma und Guido Canali
In: Bauwelt 47, 10 Dezember 1993, 84. Jahrgang, S. 2524-2525
Gilberto Botti
Parma und Guido Canali
In: Bauwelt 47, 10 Dezember 1993, 84. Jahrgang, S. 2524-2525
Luftfoto von Parma. Der Palazzo della Pilotta, zwischen Fluss und Stadtzentrum. Dort befindet sich die Nationalgalerie.
Teatro Farnese in der Pilotta. Der 1619 nach Plänen von Giovanni Battista Aleotti errichtete hölzerne Theaterraum, nach seiner weitgehenden Zerstörung im Zweiten Weltkrieg rekonstruiert, dient heute als Eingang zur Nationalgalerie. Ein Steg führt über den Zuschauerraum hinweg direkt auf die Bühne. Erst hinter dem Korbbogen-Durchbruch beginnen die Säle der Gemäldesammlung.
Foto: Mario Carrieri
Mittelaltersammlung im Südflügel.
Gewölberäume im Erd- und Untergeschoss
Sale Ottocentesche, 1821 seitlich des Teatro Farnese nach Pläne von Nicola Bettoli angefügt.
Architekt: Guido Canali
Mitarbeiter: Lucia Fornari Schianchi, Orazio Grilli, Claudio Bernardi, Gianfranco Zanafredi.
Fotos: Francesco Castagna und Vincenzo Castella
Kurz nach dem Krieg wurde besonders von italienischen Architekturtheoretikern die Forderung nach einer kritischen Einbeziehung des Kontextes in den Entwurfsgedanken gestellt, um eine „Humanisierung" des Rationalismus zu erreichen.
Ernesto N. Rogers, Chefredakteur der Zeitschrift „Casabella" während der fünfziger bis Mitte der sechziger Jahre und CIAM-Mitglied, sprach damals von der Notwendigkeit, den Bezug zur Tradition und zum Vorhandenen im Wesen und nicht in der Erscheinungsform wiederherzustellen. Gemeint war die Überwindung der Gegensätze zwischen der Moderne und früheren Bautraditionen mittels eines Dialogs, der keineswegs zeit-lich-historische Brüche verhüllen, sondern sie thematisieren sollte, wie es schon damals die Werke von Franco Albini und Carlo Scarpa zeigten.
Guido Canali, der in den sechziger Jahren am Mailänder Politechnikum Schüler von Rogers war, beweist mit seinen Bauten, besonders den Restaurierungen, überzeugend die Gültigkeit dieser Haltung. Seit mehr als zwanzig Jahren beschäftigt er sich in seinem Büro in Parma hauptsächlich mit der Instandsetzung und Umnutzung historischer Gebäude und verbindet seit kurzem seine praktische Tätigkeit mit der Universitätslehre in Venedig.
Der rote Faden einer schlichten, zurückhaltenden Eleganz, die das Spektrum seiner Pla-nungsaufgaben in ihrer Form unverwechselbar vereint, entsteht aus einer langwierigen, teilweise mühevollen Reduktionsarbeit, auf der Suche nach stringenten Beziehungen zwischen Wesen und Gestalt von Konstruktionen, Flächen und Volumen.
Zwischen Mitte der achtziger und Anfang der neunziger Jahre sind drei wichtige Projekte fertiggestellt worden, die den Umgang des Architekten mit historischer Substanz unterschiedlicher Epochen und Bedeutung be1-spielhaft darstellen: das Studienzentrum S. Elisabetta der Universität von Parma, die Erweiterung des Rathauses von Sassuolo und vor allem die Nationalgalerie von Parma.
Vergleicht man diese Projekte mit ähnlichen Realisierungen in den fünfziger Jahren, so ist festzustellen, daß eine Vertiefung und Verfeinerung bei der Interpretation vorhandener Substanz stattgefunden hat. Hier spiegeln sich sowohl die Entwicklungen als auch gegensätzliche Auffassungen einer denkmalpflegerischen Debatte in Italien wider. Die historischen Bauten sind räumlich, konstruktiv und gestalterisch Gegenstand einer bei Canali zwar immer noch bewußt interpretierenden „Lektüre", deren primäre Aufgabe im Sinne der Denkmalpflege jedoch möglichst die getreue Wiederherstellung des erkennbaren Typus oder seiner noch intakten bzw. zu ergänzenden Teile sein sollte. So geschieht es - wie beim Innenhof des Rathauses von Sassuolo -, daß die Veränderungen und Ergänzungen des ursprünglichen Gebäudetypus zu keiner einheitlichen und eindeutigen Wiedergabe, sondern vielmehr zu einer Offenlegung und Thematisierung der komplexen historischen Identität des Baues führen muß.
Das Zeigen der Unterschiede und das Zusammenfügen, ohne dabei Spuren zu verwischen, sind eindeutig Ausdruck einer analytischen und relativistischen Haltung, die die Distanz zu den Vorstellungen früherer Zeiten nicht verleugnen kann. Die Art, in der die Wahrnehmung dieser Distanz wiedergegeben wird, sagt aber auch etwas aus über das Verhältnis Canalis zu seiner Zeit. Je prägnanter die vorhandene bauliche und räumliche Gestalt ist, desto subtiler werden die Ergänzungen und notwendigen Einfügungen. Je größer die verfügbaren Mittel, desto leiser und diskreter läßt sich Canalis Interpretation wahr-nehmen. Dies zeigt am deutlichsten die Ende 1991 abgeschlossene Restaurierung der „Sale Ottocentesche" in der Nationalgalerie von Parma. Sie stellen die abschließende Etappe eines umfangreichen Sanierungs- und Umbauprogramms des Museums dar, innerhalb dessen neben den Ausstellungsstücken zugleich auch zahlreiche Räume des alten Palazzo della Pilotta präsentiert werden. Der Museumsrundgang beginnt mit dem überraschenden „Prolog" des Teatro Farnese, führt durch den West- und Nordflügel des Palastes und erreicht dann auf dem Rückweg die Säle, die bereits 1825-39 von dem klassizistischen Architekten Nicola Bettoli als Gemäldegalerie gestaltet worden waren.
Die extreme Reduzierung der Spuren der Neuplanung macht die Räume in ihrer reinen, Ausstrahlung klassizistischer Ausdrucksform wieder erlebbar. Die Entscheidung, die Säle zu restaurieren, bedeutete aber keineswegs den Verzicht Canalis auf eine Entwurfsaufgabe, sondern nur die Übernahme der Architektur des 19. Jahrhunderts als übergeordneten, bindenden Rahmen. Da bereits die ursprüngliche Konzeption von Bettoli in vergangenen Zeiten und besonders nach den erheblichen Kriegszerstörungen in vielen Details geändert worden war, mußten grundlegende Entscheidungen in Bezug auf Bodenbelag, Stuck und Farbe in denkmalpflegerischer Hinsicht gefaßt werden. Von besonderer Bedeutung sind die Lichtöffnungen am Abschluss der vier hintereinander angeordneten Kuppeln. Da die früheren Glashauben Bettolis nicht mehr vorhanden waren, konnte man bei ihrer neuen Gestaltung eine optimale Lichtführung und -intensität erreichen. Neben dem Tageslicht wurde hier auch künstliches Licht - von unten nicht sichtbar - installiert. Canalis eigene unverwechselbare Handschrift tritt nur bei Ausstellungseinrichtungen und Türeinfassungen in Erscheinung.
Wie beim Umgang mit alter Bausubstanz, so läßt sich auch bei Neubauten das besondere Verhältnis Canalis zur Bautradition und zum Kontext beobachten. Die ästhetischen Voraussetzungen dieses Verhältnisses beruhen auf der abstrakten Ausdrucksform und dem Verzicht auf eine gegenständliche, bildliche Wiederaufnahme historischer Motive. Durch langjährige Untersuchungen der morphologischen und bautypologischen Merkmale alter Städte werden bei ihm in der Auseinandersetzung mit Themen heutiger Architektur und des Städtebaus Motive und räumliche Zusammenhänge nicht als Zitat, sondern als Anregung aufgenommen und interpretiert. Sie bewirken eine teilweise provokante Kritik an den heute noch verbreiteten Vorstellungen der Stadtentwicklung und stellen konkrete gebaute Alternativen dar. Ebenso heben sie sich entschieden ab von nostalgisch rückblikkenden Konzepten wie spielerischen Fluchten in die Vergangenheit.
Angesichts der heutigen Stadtperipherie setzt das Wiederanknüpfen an räumliche Verhältnisse vorindustrieller Stadtgebilde eine kritische und bewertende Stellungnahme voraus. Daß diese nicht regressiver Art ist, zeigt sich nicht nur in Canalis Formensprache, sondern auch in seinem Interesse für die Anwendung zeitgemäßer Bautechniken.
Hier stellen sich zwei Fragen: Verbirgt sich hinter dieser Rückbesinnung auf die räumlichen Qualitäten alter Stadtzentren nicht der Wunsch nach individuellen und sozialen Verhaltensformen, die den heutigen Lebensvorstellungen und Bedürfnissen längst nicht mehr entsprechen? Oder enthält vielleicht die Tradition einen lebendigen, zeitlosen Kern, eine menschliche Maßstäblichkeit, die es auch unter den heutigen Lebensbedingungen und mit den heutigen Mitteln zu bewahren und weiter zu interpretieren gilt? Canalis Bauten scheinen diesbezüglich mehr Fragen zu stellen als Antworten zu geben.
Sassuolos neuer Rathaussaal mit Geschäftszentrum ist zur Zeit im Bau. Der Gebäudekomplex ersetzt eine alte Schule, die sich am Rand der Altstadt befand. Vorgesehen ist, die Fassade der Schule zu erhalten. Brücken und Stege, die durch rhythmische Rahmenstrukturen begleitet und gefangen werden, erfüllen die verbindende und vermittelnde Aufgabe der Architektur. Diese Aufgabe macht das Wesen des urbanen Charakters aus, den die Städte physisch verloren und ethisch verleugnet haben. Canali nimmt dies als thematische Herausforderung auf.